Eine Geschichte vom Verlieren

Man kann so viele Dinge verlieren. Zum Beispiel einen Schlüssel, eine Freundschaft, einen geliebten Menschen oder ein Haustier, einen Job oder Geld. Eine etwas andere Art von Verlieren, möglicherweise die schlimmste von allen, ist, sich selbst zu verlieren.

Man kann sich selbst an einen Job verlieren, an ein Hobby, an Krankheit, einen Glauben oder eine Überzeugung. Man kann sich aber auch an Beziehungen verlieren, an die Eltern, die Kinder, Freunde oder PartnerInnen. Ich habe mich schon in fast allen genannten Bereichen verloren. Heute würde ich sagen, dass ich fast mein ganzes Leben bis vor ein, zwei Jahren verloren gelebt habe. Seitdem drifte ich immer wieder hin und her zwischen verloren und verbunden sein. Eins sein. Integer sein. Vollständig sein. Geerdet sein.

Wenn ich die Verbindung zu mir wieder verliere, fühlt es sich an, als würde ich in Stücke gerissen. Als würde alle Lebensfreude, alle Zufriedenheit und jeglicher Optimismus aus mir herausgesaugt werden. Als würde ich plötzlich in eine Depression verfallen, aus der es nur einen Weg wieder hinaus gibt. Es fühlt sich an wie Liebeskummer. Ich trauere um mich. Ich vermisse mich.

Und genauso plötzlich, wie der Verlust eintreten und Symptome einer Depression mich überkommen können, genauso schnell kann ich wieder zurück in Verbundenheit geraten und glücklich, zufrieden und hoffnungsvoll sein. Manchmal dauert es Tage oder Wochen, manchmal geschieht es innerhalb von Stunden oder sogar Minuten.

Manchmal lese ich so tolle Geschichten von Menschen, die sich auf die Suche nach sich selbst begeben haben. Meistens enden diese dann so, dass die Person, oft nach langer Reise und viel Arbeit, sich gefunden hat und nun ein authentisches, zufriedenes Leben voller Integrität führt. Ich habe solche Menschen auch schon kennengelernt. Diese Menschen, die so echt und unpoliert sind, so im Reinen mit sich selbst. Die sich nicht verbiegen, um sich irgendwelchen Normen oder Erwartungen anzupassen. Die voll in ihrem Körper stecken und mit einem mitschwingen. Ich fühle mich extrem wohl bei diesen Menschen und wünsche mir, eines Tages auch so zu sein, natürlich auf meine Art.

In manchen dieser Geschichten oder wenn man mit solchen Menschen spricht, erfährt man, dass der Weg nicht einfach war und lange gedauert hat. Nun gut, das ist wohl zu erwarten. Aber ich habe bisher noch nie davon gelesen oder gehört, was in der Zwischenzeit passiert ist. Dass es vielleicht nicht die eine Erkenntnis, die eine Erleuchtung gab, die zur vollen Integrität geführt hat. Ich habe es mir immer wie eine stetige Aufwärtsentwicklung vorgestellt. Jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr findet man mehr zu sich selbst und wird immer vollständiger. Das erschien mir logisch.

Keiner hat mir oder der Welt mitgeteilt, dass es gar nicht so abläuft! Dass der Weg nicht linear, sondern eher wellenförmig oder spiralförmig verläuft. Dass man sich finden kann und dann doch wieder verliert. Dass man glaubt, es endlich kapiert zu haben – nur um sich im nächsten Moment wieder zu fragen, was das eigentlich alles soll.

Vielleicht ist das der Weg. Vielleicht ist das genau der Trainingsplan, den es braucht. Denn nur, wenn wir uns immer wieder verlieren, können wir uns darin üben, uns wiederzufinden. Vielleicht ist es reine Übungssache, wie man so schön sagt.

Die Schwierigkeit dabei ist, dass das Üben einer wahren Tortur gleichen kann. Denn die Momente des Verlusts sind überwältigend, negativ, schmerzhaft, traurig und zerreißend. Insbesondere dann, wenn man die Wärme, die Freude, die Klarheit, die Schönheit des Verbundenseins gekostet hat.

Wenn ich es schaffe, mich richtig mit mir zu verbinden und meinen Körper vollständig zu bewohnen, bin ich ein völlig anderer Mensch. Dann macht es nichts mehr, dass ich krank und extrem eingeschränkt bin. Dann bin ich selbstsicher und so klar in dem, was ich brauche, was ich will und was nicht. Es gibt keine Sorgen, keine Ängste und keine Unsicherheiten mehr. Ich strahle, bin voller Freude und Zufriedenheit. Ich strotze vor Positivität und Enthusiasmus und blicke voller Vorfreude in die Zukunft.

Bin ich verloren, geht all das auch verloren. Dann bin ich unzufrieden, unsicher, reizbar, unruhig oder passiv. Ich habe den Kopf voller Gedanken, mache mir ständig Sorgen und habe viele Ängste. Das wiederum führt zu einer Reizüberflutung und Überforderung. Das merke ich sowohl geistig, als auch körperlich. Dann wird mir schnell alles und jede/r zu viel. Es fällt mir schwerer, Ruhe zu ertragen. Also stürze ich mich in weitere Beschäftigung, was zu weiterer Entfremdung und Überforderung führt. Ein Teufelskreis!

Ich denke dann immer: Wenn ich das noch mache, dieses noch erledige, dann kann ich mich wieder beruhigen und nach meiner Verbindung suchen. Aber es gibt immer das eine, was noch erledigt werden muss. Es gibt immer etwas, das nur noch eben fertiggestellt werden muss. Also gehe ich immer wieder über meine Grenzen und verschlimmere damit meine Situation.

Bisher schaffe ich es nicht, über einen längeren Zeitraum ausgewogen zu handeln. Die Balance zu halten. Zwischen mir und meiner Verbindung und dem, was ich so außerhalb von mir zu tun habe. Denn darum geht es letztendlich – bei mir, in mir zu bleiben, mich zu bewahren und gleichzeitig im Kontakt mit der Außenwelt zu sein. Ich gehe bei diesem Kontakt früher oder später verloren.

Die letzten zweieinhalb Jahre habe ich mich sehr zurückgezogen, weil ich diesem Sog von außen nicht standhalten konnte. Aber dann habe ich mir stattdessen andere Dinge Zuhause gesucht, die denselben Effekt hatten. Seitdem bin ich immer kränker geworden. Ich habe aufgehört, zu arbeiten. Dafür habe ich mich an das Studium verloren. Zwischenzeitlich habe ich mich immer wieder an den Blog, Youtube und Instagram verloren. Manchmal an unsere Hunde. Das letzte Jahr habe ich mich an meine Krankheiten verloren. Fast durchgehend habe ich mich an meine Ehe verloren.

Jetzt leben wir getrennt. Das hat verschiedene Gründe, aber einer davon ist, dass ich mich in der Beziehung einfach nicht bewahren konnte. Nun lebe ich also gerade frisch allein und habe mich schon wieder verloren. Es gibt immer irgendetwas, an das ich mich verlieren kann. Ich kann nicht alle äußeren Einflüsse abschalten, höchstens minimieren. Aber selbst das reicht nicht aus.

Ich will einen Weg finden, mich jeden Tag, möglicherweise jede Stunde, wieder mit mir zu verbinden. Die Verbindung, die natürlicherweise schwankt, nie ganz abreißen zu lassen, egal was gerade ansteht. Mich nicht in meinen eigenen Ideen, ToDos und Anforderungen zu verlieren. Mich auch nicht von anderen unter Druck setzen zu lassen.

Dafür muss ich Zeit machen. Aber Zeit allein reicht nicht aus. Ich kann mir die Zeit nehmen, zu meditieren, und dabei oder direkt danach wieder voll aus dem Kontakt fallen. Was fehlt also? Brauche ich häufigere, kleinere Rituale? Möglicherweise, denn je weiter ich entfernt bin, desto weniger helfen mir Meditationen und solcherlei Dinge. Dann dauert es einige Zeit und braucht manchmal ein Gespräch mit mir oder jemand anderem, einen Spaziergang oder eine andere Aktivität.

Es ist schwierig und unangenehm, diese Zeiten des Verlusts zu durchleben und mich dann irgendwie wieder in Verbundenheit zu kämpfen. Für mich gibt es aber auch keine Alternative. Immer in Unverbundenheit zu leben, habe ich unwillkürlich die ersten 28 Jahre meines Lebens probiert und das hat mich nur krank und unglücklich gemacht. Ich habe auch keinen Zauberstab, der mir die Arbeit abnehmen könnte. Also bleibt nur, immer weiter daran zu arbeiten und sich nicht vom Weg abbringen zu lassen.

Ich glaube fest daran, dass dieser Kampf sich lohnt. Ich habe das Wunder und das Glück des Verbundenseins schon mehrfach erlebt. Ich weiß also, dass es existiert und alle Mühen wert ist. Ich kann es kaum abwarten, das wieder zu erleben!

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