Impulse, Dissoziation und Konformität Pt. 1

In 2020 bin ich so krank geworden, dass ich mehr oder weniger ein Totalausfall war. Ich hatte zu kämpfen mit starken, chronischen Schmerzen, Erschöpfung und Depressivität. Ich war so unzufrieden. Auch dann noch, als ich mich der Wirtschaft entsagt und meinen Job gekündigt habe, um Psychologie zu studieren.

In einer Erstsitzung bei einer Psychotherapeutin fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mein Körper und meine Seele schrien mich in voller Lautstärke an. Aber warum denn? Ich hatte den Schritt aus der Sicherheit meines Jobs gewagt und eine ganz neue Richtung begonnen, die definitiv besser zu mir passte. Ich war verlobt mit dem Mann, den ich liebte und wir lebten mit unseren Tieren in einem Holzhaus auf dem Land. So, wie ich es mir gewünscht hatte.

Nicht im Kontakt

Trotzdem ging es mir immer schlechter. Ich ging in eine psychosomatische Tagesklinik und erkannte, dass ich überhaupt keinen echten Kontakt zu mir und meinen Emotionen hatte. Ich wusste selten, was ich wollte. Ich wusste nie, was ich brauchte oder was mir schadete. Ich habe immer das gemacht oder mit mir machen lassen, was ich für richtig hielt.

Dabei habe ich mich all die Jahre zuvor immer für so reflektiert und fortgeschritten gehalten. Ich konnte alles bis zum Umfallen analysieren und Zusammenhänge erkennen. Ich konnte meine Stärken und Schwächen benennen, kannte meine eingefahrenen Verhaltensweisen und Glaubensmuster. Ich wusste auch, wie ich mich bei dieser oder jener Situation wohl fühlte. Aber ich habe es nicht gespürt. Das hat alles nur in meinem Kopf, in meinem Geist stattgefunden. 

So saß ich manchmal vor einer Therapeutin und habe von tragischen, schmerzhaften Dingen erzählt, als würde ich von einem Film berichten. Ich hatte damals einige Erstgespräche und manche TherapeutInnen haben durch mein gefasstes Äußeres und die lässige Art zu erzählen gar nicht begriffen, wie schlecht es mir ging. Wie verzweifelt ich war. Heute würde ich vermuten, dass das bei denen TherapeutInnen der Fall war, die selbst nicht besonders gut im Kontakt sind. Sie konnten mich auch nicht spüren, wussten das aber nicht zuzuordnen. 

Menschen, die man zwar sehen und hören, aber nicht spüren kann, sorgen für ein unangenehmes Gefühl im Gegenüber. Die Menschen, die selbst nicht im Kontakt sind, können das nicht einordnen. Es fehlt irgendwie was. Es ist als ob die andere Person redet aber nichts sagt. Sie resoniert nicht.

Ich war genau so jemand. Ich saß in der Gruppentherapie und habe alle Rätsel gelöst und mich und andere analysiert wie ein Profi. Ich habe viele erstaunte Rückmeldungen bekommen, die anderen würden mich darum beneiden und ich sei ja schon so weit. In Wahrheit hing ich noch ganz hinten an. Nur weil der Geist etwas begreift, heißt das noch lange nicht, dass Emotionen und Körper das auch tun. Und wenn es auf diesen Ebenen nicht verstanden und integriert wurde, dann ist es nicht wirklich verstanden und integriert.

Intellekt ist alles – oder auch nicht

Das zu begreifen und sich auf einen solchen Prozess einzulassen ist für kopflastige Menschen schwierig. Manche schaffen es nie und bleiben immer geisterhaft und nicht-greifbar. Das Leben scheint dann an einem vorbeizuziehen und irgendwie bekommt man es nicht richtig mit.

Kein Wunder, denn so werden wir in der westlichen Welt erzogen. Der Kopf, der Geist, der Intellekt sind alles. Schnelligkeit ist gefragt und Anpassung wird vorausgesetzt. Der Körper ist Mittel zum Zweck, ein Werkzeug. Emotionen dürfen nur positiv sein. Negative Gedanken und Emotionen haben keinen Platz in dieser Welt. Dafür haben wir keine Zeit.

Uns wird nicht beigebracht, auf unseren Körper, unsere Emotionen und Impulse zu hören. Im Gegenteil, wird vielen von uns von klein auf an beigebracht, diese Impulse und Bedürfnisse zu unterdrücken. Anpassung ist die Überlebensstrategie. Bloß nicht auffallen und für unangenehme Momente sorgen. Man soll nicht zu laut sein aber auch nicht zu leise. Bitte nicht so sensibel und weinerlich sein aber auch kein Raudi. Jungs sollen stark und männlich sein und Mädchen sollen still und stets hilfsbereit sein. Die Grenzen innerhalb derer sich die meisten Kinder bewegen müssen, sind erschreckend eng.

So lernen wir früh, dass wir unseren Bedürfnissen und Impulsen nicht vertrauen können. Unseren Körper gilt es zu zähmen und auf keinen Fall dürfen wir dessen Signale ernst nehmen oder gar darauf reagieren. Der Körper hat einfach zu funktionieren und gut auszusehen, mehr nicht.

Dissoziation

Wenn man sich diese Sätze mal vor Augen hält, erkennt man schnell, dass der Körper so von einem getrennt wahrgenommen wird. Wir dissoziieren (trennen) uns von unserem Körper und oft auch von unseren Emotionen. Sei es, weil sie unerwünscht sind oder weil sie für ein Kind zu überwältigend sind.

Wir finden Überlebensstrategien. Wir lernen, alles Unerwünschte zu unterdrücken und nur das nach außen zur Schau zu stellen, was erwünscht ist und gelobt wird. Als intelligentes Kind kann man sich getrost hinter diesem Intellekt verstecken. Damit lässt sich in der heutigen Welt (fast) alles erreichen. Dafür werden wir sogar gelobt und gefördert. Die Dissoziation von Körper und Emotionen – und damit unserem Selbst – ist vollzogen.

Ich war immer sehr stolz auf meinen Intellekt und meine guten Noten. Ich habe dafür von allen Seiten viel Anerkennung und Bewunderung erhalten. Darüber habe ich lange Zeit meinen Selbstwert bezogen. Bis zur 12. Klasse hat das mehr oder weniger gut funktioniert. Dann stand das Abi vor der Tür und ich habe Panik bekommen. Was ist, wenn ich dort nicht so gut abschneide? Wenn ich nicht mehr Klassenbeste bin? 

Wer seinen gesamten Wert nur über diese eine Fähigkeit oder Eigenschaft bezieht, steht vor einer Katastrophe, wenn diese wegfallen sollte. Alle Anerkennung, alles Lob, alle Zuneigung und alles Interesse für die eigene Person drohen zu verschwinden. Wer bin ich dann noch? Das kann unheimliche Existenzängste hervorrufen. Ich konnte diesem Druck nicht standhalten. Schon damals haben sich meine körperlichen Symptome verschlimmert und ich war zum ersten Mal in einer Klinik. Nicht nur das, ich habe nach der 12. Klasse die Schule verlassen.

Bedürfnisse und Impulse

Seit ich nun also mit 27 in der Tagesklinik war, habe ich begonnen, meinen Körper und meine Bedürfnisse und Impulse mehr wahrzunehmen. Ich habe angefangen herauszufinden, was mir durch Kultur und Erziehung auferlegt wurde und was ich eigentlich selber wollte und dachte. Ich habe mich getraut, mal etwas links und rechts vom vorgegebenen Weg zu gehen. Aber bis heute, zwei Jahre später, bewege ich mich doch immer noch in den sicheren Grenzen des Akzeptablen. Ich bin mir meiner Wirkung auf andere und deren Erwartungen an mich stets bewusst. Ich gehe immer nur so weit, dass ich etwas individueller, etwas mehr ich bin aber doch noch konform mit dem, was mein Umfeld von mir erwartet.

Und nicht nur mein Umfeld, sondern auch ein Teil in mir. Ich habe diese unsinnigen, einschränkenden Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft internalisiert (übernommen). Und dieser Teil von mir ist wahnsinnig stark und dominant. Natürlich, er hatte fast 30 Jahre zum Trainieren und hat lange Zeit für mein Überleben gesorgt. Er ist außerdem sehr schnell und überrollt immer wieder die anderen Anteile in mir und übernimmt die Führung.

Wenn das passiert, bin ich für kurze Zeit sehr effizient, leistungsstark und gesellschaftskonform, nur um im Anschluss abzustürzen. Mein Körper macht da nicht mehr mit. Und auch meine Seele, meine Emotionen weigern sich inzwischen, da mitzuspielen. Früher konnte ich diese Phasen lange aufrecht erhalten, monate- teilweise jahrelang, bis dann ein Einsturz kam. Heute kann ich mich nicht mehr austricksen, überreden oder das Unvermeidliche hinausschieben. Das Fass ist voll.

Ich brauche Ruhe und Stille

Bisher glaubte ich, mein Körper würde mich einfach ausbremsen mit seinen blöden Bedürfnissen und Krankheiten. Ich habe mich immer wieder so geärgert – und tue es noch – und einfach nicht verstanden, wo da der Sinn hinter steckt. Was für einen Sinn soll es ergeben, wenn mein Kopf so viele Ideen hat, voller Inspiration und Motivation und Tatendrang steckt und mein Körper mich ständig blockiert? Das passt doch gar nicht zusammen. Das ist nicht logisch.

Erst jetzt wird mir klar, dass ich vom Wesen her gar nicht so bin. Zumindest nicht ausschließlich. Ich wurde so erzogen. Ich wurde durch äußere Einflüsse und meinen Überlebensdrang so geformt. Zu Schnelligkeit, Perfektionismus und pausenlosem Eifer. Im Kern bin ich aber wesentlich sanftmütiger, ruhiger, langsamer. Ich bin wahnsinnig sensibel und brauche lange, um Dinge in der Tiefe zu verarbeiten. Ich brauche Ruhe und Stille.

Aber das zu akzeptieren fällt mir noch sehr schwer. Es passt nicht in mein Weltbild. Nicht in das Bild, was ich von mir habe. Dieser dominante Teil in mir schämt sich dafür und will es nicht erlauben. Es gehört sich nicht. So soll man nicht sein. So erreicht man doch nichts im Leben. Ich habe immer noch große Angst vor Ablehnung und Unverständnis. Und die schlimmste Person mit der größten Ablehnung gegen mich bin vermutlich ich selber.

Und jetzt?

Ich war schon so oft mutig, habe so viele Dinge verändert, Knoten gelöst und Ketten abgelegt. Aber gerade merke ich wieder, dass ich doch immer noch unfrei bin. Ich kann mir selbst immer noch nicht erlauben, vollkommen das zu sein, was ich bin. Mit allen Anteilen und Eigenschaften, ohne Einschränkungen.

In meinem nächsten Beitrag führe ich diese Gedanken fort. Dort geht es vor allem um diese Persönlichkeitsanteile und wie ich mit ihnen umgehen möchte.

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