
09 Sep Impulse, Dissoziation und Konformität Pt. 2
Den ersten Teil zu diesem Beitrag habe ich folgendermaßen beendet:
„Ich war schon so oft mutig, habe so viele Dinge verändert, Knoten gelöst und Ketten abgelegt. Aber gerade merke ich wieder, dass ich doch immer noch unfrei bin. Ich kann mir selbst immer noch nicht erlauben, vollkommen das zu sein, was ich bin. Mit allen Anteilen und Eigenschaften, ohne Einschränkungen.“
Dieser Teil ist besonders tricky. Mit allen Anteilen. Bei allem was ich so geschrieben habe, könnte man sich leicht dazu verführen lassen zu glauben, dieser dominante Anteil müsse weg. Er wurde mir ja schließlich von außen aufgezwungen und schadet mir nur. Ich selbst tappe immer wieder in diese Falle.
Der dominante Anteil
Nehmen wir diesen Anteil doch mal genauer unter die Lupe: Er ist sehr früh entstanden und vor allem durch äußere Einflüsse und innere Bedürfnisse geformt worden. Wie viel von diesem Teil schon immer in mir steckte, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Aber heute ist er ein Teil von mir. Ich habe fast 30 Jahre mit ihm gelebt und durch ihn überlebt. Nur durch ihn bin ich heute da, wo ich bin. Das hat positive und negative Aspekte.
Alles, was einem im Leben widerfährt – egal ob positiv oder negativ – gehört zu einem. Das kann man finden, wie man will, aber es ist so. Nichts lässt sich ausradieren. Erfahrungen und Anteile zu leugnen, macht sie nicht ungeschehen. Je mehr wir sie unterdrücken, desto stärker werden sie sich früher oder später zur wehr setzen. Sie werden immer unser Handeln und Denken beeinflussen. Im Falle der Unterdrückung vielleicht mehr unterbewusst. Das kann wiederum gefährlich werden, denn dann wissen wir nicht einmal, warum wir in einer bestimmten Situation so oder so reagieren.
Unterdrückung vs. Integration
Früher habe ich meine sensible, emotionale und weiche Seite unterdrückt. Das hat zu Dissoziation, Unzufriedenheit und Krankheit geführt. Was kann ich also erwarten, wenn ich jetzt versuche, einen anderen Teil von mir wegzudrücken? Ich kämpfe selbst immer wieder mit dieser Frage. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man solch gegensätzliche Seiten zusammenführen soll. Und wie es mir damit gut gehen kann, wenn dieser Teil doch für so viel Schmerz gesorgt hat. Ich bin wütend auf diesen Anteil. Verärgert und traurig darüber, dass er überhaupt so entstehen musste und ich mich nicht frei entfalten konnte.
Auf der anderen Seite – wenn ich länger darüber nachdenke – wird mir klar, wie viel ich diesem Anteil zu verdanken habe. In einem Umfeld, welches ich als Kind nicht verändern konnte, hat er mich gerettet. Er ist so geworden bzw. ich bin so geworden, um mich zu schützen und mein Überleben zu sichern. Nicht, um mir weh zu tun.
Das einzig sinnvolle Ziel kann also nur Integration sein. Ein Ausbalancieren beider Seiten, beider Anteile. Und derer, denen ich mir noch nicht bewusst bin. Dazu hatte ich ein wunderbar beschreibendes Erlebnis: Vor ein paar Tagen hatte ich mal wieder eine kleine emotionale Krise. Es ging mir nicht gut. Ich fühlte mich emotional sehr bedrückt. Ich tauschte mich über Text und Sprachnachrichten mit meinem Mann über das Thema aus, was mich beschäftigte. Im Verlauf des Gespräches ging es mir wieder besser. Zum Ende hin sagte er “Ich mag, wie du denkst und Dinge verarbeitest.” Ich fragte, warum. Darauf antwortete er “Weil du emotional bist und gleichzeitig analytisch. Du nutzt beides.”
Diese Aussage bewegte mich sehr. Ich dachte und fühlte darüber nach und erkannte die Wahrheit darin. Ich fühlte mich zu Beginn schlecht und habe daraufhin meine Gefühle weiter zugelassen, exploriert und mit Erlebnissen in Zusammenhang gebracht. Dann begann ich zu analysieren, warum das zu diesen Gefühlen geführt hatte und fand einen Weg, anders über das Thema zu denken. Das wiederum führte dazu, dass ich auch anders darüber fühlte. Ich hatte das Problem sowohl emotional als auch kognitiv (geistig) durchgearbeitet. Es war damit erledigt und belastete mich nicht mehr.
Meine Superkraft
Das ist eine ganz wichtige Fähigkeit für hochsensible Menschen wie mich. Es gibt immer wieder Momente, in denen mich etwas scheinbar Kleines emotional so belastet, dass ich sehr darunter leide. Ich trage so etwas zu lange mit mir rum und leide, wenn ich es nicht bewusst versuche zu lösen.
Unbewusst hatte ich beide Anteile zusammengebracht, beiden ihren Raum gelassen und wir waren gemeinsam zu einer Lösung gelangt. Wundervoll! Diese Erkenntnis löste ein richtig schönes Gefühl in mir aus, eine tiefe Freude, die beiden Anteilen innewohnte. Mir wurde in diesem Moment klar, dass beide Anteile für sich wertvoll und wunderbar sind. Gemeinsam aber sind sie eine unschlagbare Superkraft! Was ich damit alles für mich und die Welt tun könnte!
Ich glaube, dass in der Integration beider (aller) Anteile ein großartiges Potenzial liegt. Sie können mir helfen, gesund, zufrieden und ausgeglichen zu sein. Sie können mir aber auch helfen, in dieser Welt, die zu laut, zu schnell, zu oberflächlich ist, zurecht zu kommen – wenn ich es will.
Wie macht man das?
Wie macht man das also? Wie integriert man langsame und schnelle Anteile? Ich habe ehrlich gesagt noch keine Ahnung. Aber ich habe mir Folgendes für den Anfang überlegt.
Zeit, zu reagieren
Ich will mir Zeit nehmen, zu reagieren. Das geht am einfachsten in Textform. Ich antworte nicht sofort auf jede Nachricht, sondern denke und fühle erstmal ein wenig darauf herum. Auch wenn jemand mich direkt anspricht, kann ich erstmal tief einatmen und nachdenken. Wenn nötig, kann ich mir auch verbal Zeit zum nachdenken einräumen.
Schreiben anstatt Sprechen
Anstatt nur Youtube Videos zu machen, in denen ich planlos vor mich hin quatsche, schreibe ich wieder mehr Blog Artikel. Sobald ich den Mund aufmache, ist der effiziente Teil auch schon wieder am Steuer und bereit zu performen. Vor ein paar Tagen habe ich zwei Videos gemacht und mir danach angeschaut. Dabei fühlte ich mich sehr unwohl, wie es häufig der Fall ist. Ich fand mich in den Videos nicht authentisch. Ich, in meiner Vollständigkeit, kam gar nicht rüber. Wenn ich schreibe, habe ich mehr Zeit und Ruhe und kann besser nachfühlen. Beim Schreiben passiert viel mehr in mir. Ich verarbeite und integriere, während ich diese Zeilen schreibe. Ich fließe in diesen Text.
Innehalten
Mehrfach am Tag – über den Zeitintervall bin ich mir noch nicht schlüssig – halte ich ein und frage mich, wie es mir geht und was ich brauche. Worauf habe ich grade Lust? Tut mir das, was ich grade tue gut? Wenn nicht, kann ich es pausieren oder beenden? Ich habe zum Beispiel festgestellt, dass ich bestimmte Dinge wie Onlineaktivität, Bürokratie und andere Themen nur in kleinen Dosen ertrage. Während dieser Tätigkeiten werde ich immer weiter aus mir herausgesogen. Eine kurze Weile geht das gut, ohne größeren Schaden anzurichten. Wird diese Grenze überschritten, leide ich körperlich und emotional.
Impulse wahrnehmen und ihnen nachgehen
Ich will meine Impulse besser und häufiger wahrnehmen und versuchen, ihnen zu folgen. Die letzten Wochen ist mir immer mal wieder aufgefallen, dass mich ein Impuls kurz durchzuckt – meistens in Form eines Bildes oder Gedankens und einer Bewegungsintention. Dann setzt mein wohl erzogener Anteil ein und diskutiert bis zum Erbrechen, ob das jetzt wirklich Not tut und wenn ich ehrlich bin, ob ich es wert bin.
Mir kommt zum Beispiel blitzartig der Gedanke, dass ein Kühlpack auf der Stirn jetzt sehr angenehm wäre. Meine standardmäßige Reaktion ist es dann, darüber nachzudenken und zu dem Entschluss zu kommen, dass das nicht unbedingt sein muss und ich mich nicht so anstellen soll. Diesen Luxus darf ich mir also nicht leisten. Das ist in den meisten Fällen natürlich absoluter Quatsch. Eine Maßregelung um ihrer selbst willen. Mit dem Ziel, weiterhin schön brav und angepasst zu sein, meine nichtigen Bedürfnisse zu unterdrücken und nach außen hin die Haltung und Diszipliniertheit zu bewahren. Aber zu welchem Preis? Und für wen eigentlich? Da war ja niemand außer mir, der was Negatives über mein Kühlpack-Bedürfnis hätte denken können.
Übung macht die Meisterin!
Dieses Verhalten ist so tief in mir verankert, dass es eine lange Zeit, Geduld und Übung kosten wird, das zu überschreiben. Ich habe nicht nur gelernt, meine Bedürfnisse und Grenzen zu ignorieren sondern auch noch, dass sie etwas schlechtes und falsches sind. Sie sind nicht vertrauenswürdig. Ich lehne sie ab und ich lehne mich ab, weil ich diese Bedürfnisse und Grenzen habe. Ich halte mich dadurch für falsch. Zumindest dieser dominante Teil in mir tut das. Deshalb geht es mir immer schlecht, bin ich immer unzufrieden, wenn dieser Anteil die Zügel in der Hand hat. Er erwartet einen Roboter ohne Bedürfnisse und Grenzen aber ich bin ein Mensch und kann dem niemals gerecht werden. Ein Spiel, bei dem ich nur verlieren kann.
Es gilt also, die anderen Anteile in mir zu fördern. Wie ich es mit einem Kind machen würde. Langsam, geduldig und voller Mitgefühl und Verständnis. Je öfter man etwas tut, desto einfacher wird es – bis es irgendwann automatisiert erfolgt. Das ist mit allem so. Übung macht die Meisterin! Keine leichte Aufgabe aber ich bin es mir wert. Und mein Körper und meine Emotionen achten schon darauf, dass ich das nicht vergesse und ermahnen mich im Zweifel immer wieder daran.
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